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Eure Maulkorbangst nervt!

Klingt hart? Mag sein. Hart ist auch, immer wieder zu beobachten wie Menschen zusammenzucken, weil ihr Hund einen Schritt nach vorne macht, wie sie die Luft anhalten, während ich ihren Hund streichel’. Zu beobachten, wie sie sich zwingen, die Leine fahrlässig lang und locker zu lassen und dabei unfassbar unentspannt sind, weil ihnen das Drohfixieren ihres Hundes nicht entgeht.

Vielleicht denken sie, ich merke es nicht, wie sie abwartend, ängstlich und zugleich hoffnungsvoll ihren Hund in einem versehentlichen Sozialkontakt beobachten. Wird es diesmal gut gehen? 

 

Wie Menschen mitten im Satz erstarren, weil ein unbedarfter Fahrradfahrer viel zu schnell und zu dicht an uns vorbeizurauschen droht. Die Erleichterung, dass eine weitere Situation gut gegangen ist, die auch schon mal fast schief ging. Als wäre das ein Versprechen für alle folgenden. 

Ja, man hat bereits eine Hose ersetzt. Das war aber kein richtiger Biss. Da ist der Hund nur hängen geblieben. 

Achso, ist klar.

 

Ich verstehe das. Wirklich.

So ein Maulkorb ist ja doch irgendwie eine Einschränkung für den Hund. Dann noch das öffentliche Eingeständnis, dass man damit rechnet, dass der eigene Hund beißen könnte. Oder womöglich schon gebissen hat.

Sicher tuscheln die Nachbarn jetzt, dass sie es immer schon geahnt haben. Der Hund ist gefährlich. Die Alte hat das doch von Anfang an nicht im Griff gehabt….“kein Wunder“.

Ein Maulkorb ist die öffentliche Kapitulation. „Seht her. Mein Hund benutzt seine Zähne und ich möchte Verletzungen vermeiden. Leider war es mir nicht möglich, aus diesem Hund einen zu 100 % funktionierenden Roboter zu machen, der sich in unserer bekloppten Welt, besser (was auch immer das bedeutet) als die beste Person die ich kenne, verhält. Nein, das hat nichts mit Verantwortungsbewusstsein zu tun. Im Gegenteil: Ich habe versagt.“

Wenn die wüssten, wie oft du mit deinem Hund schwitzend im Aufzug gestanden hast und gehofft hast, dass bitte, bitte niemand zusteigt? Wie lange du teilweise hinter deiner Wohnungstür wartest, dass die Luft rein ist und in der Bahn deinem Hund unauffällig unter der Bank die Schnauze per Hand zuhältst, wenn jemand neben dir Platz nimmt. 

Wie oft du die einzige Person warst, die diese winzig kleine, kurze Bewegung gesehen hat, die dein Hund in Richtung des rennenden Kindes gemacht hat? Wie oft dein Hund auf der Hundwiese zu doll und zu grob mit einem anderen Hund war, das aber außer dir niemandem aufgefallen ist und es deshalb vielleicht garnicht so schlimm ist? 

Das eine mal, als dein Hund im Urlaub an der Nordsee einen Junghund gebissen hat und du ihn seitdem nur noch selten zu anderen Hunden lässt. Dass du 1200 € Tierarztkosten übernommen hast und heilfroh warst, dass „die Anderen“ deinen Hund (also dich) nicht angezeigt haben. Das hat hier zum Glück niemand mitbekommen. Oder damals, als dein Hund noch „ganz neu war“ und er zu einem anderen Hund gerannt ist (um, wie du damals noch dachtest „Hallo zu sagen“), der andere Hund aber mega schreckhaft war und die Besitzerin damals ihren Hund so komisch abgetastet hat. Übertrieben…was soll da passiert sein. Schnell weiter, bevor sie was sagt. Insgeheim hast du aber genauso das blitzschnelle Zupacken gesehen. 

Sprichst du mit jemanden darüber, dass dein Hund regelmäßig deine Kinder anknurrt und es schon mehrere „Fast-Bisse“ gab? Sprichst du mit deinen Kindern darüber? Bekommen sie noch Besuch? Hat dein Hund vielleicht sogar schon mal nach den Freunden deines Kindes geschnappt, es ist aber glücklicherweise „nichts passiert“ und du konntest es so runterspielen, dass sie zu Hause nichts erzählt haben?

Sperrst du deinen Hund komplett weg, wenn du Besuch bekommst? Oder bist du mittlerweile noch einsamer, als zu der Zeit bevor du diesen Hund hattest? Hast du manchmal Angst, dass dein Hund irgendwann auch dich verletzen könnte, wenn er so an der Leine ausrastet wie er es tut, wenn er seinen Erzfeind sieht? Hat dein Hund dich vielleicht schonmal „versehentlich“ erwischt? (By the way: Die „Versehentlichquote“ bei Hundebissen ist sehr, seeeehr gering).

Kann es sein, dass dein Hund unter seinem verfilzten Fell leidet, sich jetzt im Winter Eisklumpen zwischen den langen Haaren zwischen seinen Zehen sammeln oder seine Krallen dringend geschnitten werden müssen, du das ganze „Fellpflegethema“ aber vor die herschiebst? Der Hundefriseur scheint das irgendwie hinzubekommen, aber da bist du ja nicht dabei gewesen und beim zweiten Termin hat dein Hund sich schon in der Eingangstür wenig kooperativ gezeigt und der Hundefriseur meinte dann, dass er deinen Hund so nicht behandeln wird. Also müsstest du es eigentlich selber machen, denn dein Hund scheint wirklich zu leiden. Du warst ganz schön überrascht und auch persönlich getroffen, als dein Hund dir sehr deutlich gezeigt hat, dass er sich von dir jetzt gerade sicher nicht anfassen lässt. Dass du Zecken schon manchmal einfach ignoriert und darauf gewartet hast, dass sie von selbst rausfallen, darf man ja keinem erzählen. 

Niemand ahnt, dass du deinem Hund in bestimmten Situationen nicht über den Weg traust. Niemand bemerkt, dass du dich vor manchen Situationen drückst, die Luft anhältst und danach weiche Knie hast.

Falls es doch jemand bemerkt, spielst du es runter und hältst die Fassade aufrecht. Ein bisschen, wie in einer echt sehr toxischen Beziehung. 

Hundeschule statt Maulkorb?

Das kann so nicht weitergehen. So hast du dir das nicht vorgestellt. Also suchst du dir eine Hundeschule und bekommst dort statt einiger griffiger Tipps die Empfehlung, deinem Hund einen Maulkorb zu kaufen.

Hää?

Entschuldigung! Er hat noch nie gebissen. Bei dem einen mal hat er nur geschnappt, da war ja nicht mal was an der Jacke und außerdem ist das schon lange her. Seitdem passt du ja auf. Und jetzt bist du ja bereit und hochmotiviert, was zu ändern und nochmal ganz neu anzufangen. Ein Maulkorb löst ja nicht das Problem. Du willst trainieren! Was soll das für eine Hundetrainerin sein? Was Besseres ist ihr wohl nicht eingefallen. Die hat ja selber Schiss. Finde ich ehrlich gesagt schon übertrieben, da jetzt gleich mit Maulkorb zu kommen. Ich gehe ja extra in die Hundeschule, damit ich keinen Maulkorb brauche. Tssss. Ist ja kein Pitbull, mein Theo.

Also suchst du dir eine Hundeschule, die keinen Maulkorb von dir verlangt. Du erzählst auch nicht gleich „Alles“. Sind ja Profis. Wenn dein Hund wirklich sooo auffällig ist, werden die das ja eh merken. 

Eigentlich klappt es ganz gut. Theo hört jetzt schon viel besser.

Naja, außer halt das „Hauptthema“. In der Hundeschule ist dein Hund bei manchen Übungen außen vor und du hältst halt einfach ein bisschen mehr Abstand. So übst du fröhlich um den heißen Brei und hast immer noch Arschwasser, wenn jemand frontal auf deinen Hund zugeht und freundlich Hallo sagt.

Und warum das Alles?

Weil du dich aus ganz seltsamen Gründen weigerst, das Maulkorbthema anzugehen.

Du liest das hier und denkst „Naja, also so krass ist das bei uns ja nicht.“ Die Mela wieder. Übertreibt. 

Und irgendeine kleine trotzige Stimme in dir sagt auch sowas wie „Ich will, dass es so geht. Ohne diesen blöden Maulkorb. Mein Hund soll doch bitte einfach nur auch einer von diesen netten unkomplizierten Hunden werden. Die eine Nachbarin, die nichtmal eine Leine DABEI HAT, war garantiert in keiner Hundeschule und hat den nettesten Hund der Welt. Wie ungerecht.

Gleichzeitig hast du unfassbare Angst davor, dass irgendwas passieren könnte. Nicht auszudenken, wenn dein Hund wirklich mal richtig zubeißt. Oder gebissen wird?!

Ehrlich gesagt, kannst du viele Situationen mittlerweile garnicht mehr einschätzen und hast vollkommen das Gefühl dafür verloren, was dein Hund kann und was nicht. 

Man könnte daran arbeiten, hörst du. Aber dann müsste man sich um einen Maulkorb kümmern. Denn keinem anderen Hund oder Mensch (Auch mir nicht. Auch Hundetrainer:innen möchten nicht gebissen werden) ist es zuzumuten, einfach mal auf gut Glück „auszuprobieren“, ob irgendwas klappt. Schon garnicht in Zeiten, in denen selbst von Hunden erwartet wird, dass sie vorwiegend nett "Hallo sagen", auch erwachsen immer nur lieb miteinander spielen und ihre Konflikte am besten am runden Tisch bereden oder erst gar keine haben. Haha.

Außerdem verhältst du dich mittlerweile in vielen Situationen so unsicher und defensiv, dass dein Verhalten wiederum das Verhalten deines Hundes so negativ beeinflusst, dass ….. „Ja!“ unterbrichst du mich „Natürlich! Ich will ja auch nicht, dass was passiert!“

 

„Jaaaaa. Das ist auch gut so. Genau deshalb braucht dein Hund einen Maulkorb.“

 

Es geht in diesem Text nicht um die Hunde, die bereits mehrfach schwere Verletzungen verursacht haben. Auch, wenn die auch mal Hunde waren, bei denen irgendjemand viel zu lange gewartet hat. Kaum ein Hund beißt plötzlich zu.

Ich kenne (kannte) einen einzigen Hund, bei dem das wirklich nicht abzusehen war und der glücklicherweise durch seine mutige Halterin ins MRT geschoben und nie wieder aufgeweckt wurde.

Jeder andere, drohende, zwickende, schnappende, knapsende, beißende Hund kann auf eine gewisse Zeit des -nennen wir es mal- Ausprobierens zurückblicken.

Manche Hunde werden immer die „nur“ Wadenbeißer bleiben. Die, die nie richtig ernstgenommen wurden, bei denen irgendwann das gesamte Umfeld einen Bogen macht und mit denen nie mehr passiert, als blaue Flecken. Konstellationen, bei denen man denkt: Krass, mehr Glück als Verstand. 

Wie geil das für die Hunde und Menschen ist, deren "Pech" man kommentiert mit "Ist doch nix passiert", stelle ich hier mal in Frage.

 

Diese Hunde, sogenannte Wackelkandidaten, haben eine weitere Gemeinsamkeit: Sie hätten eine Chance verdient, abgesichert andere Erfahrungen zu machen. In einem sicheren Umfeld, vorbereitet, angeleitet, kontrolliert.

Stattdessen werden sie ferngehalten, immer ein bisschen früher zurückgezogen (man weiß ja nie), oft geführt von einem unsicheren, dauernd alarmierten Menschen. Oder sie dürfen sich auf Kosten aller anderen überall aufführen, wie eine warme Cola, drohen, schnappen, einschüchtern, stellen und solange kein Blut fließt, wird's halt ignoriert, weggelächelt, runtergespielt.

 

Deshalb geht es hier vor allem um die unauffälligen Wackelkandidaten. Die Hunde, die nicht krass auffällig aggressives Verhalten zeigen, aber doch mal gerne nach vorne gehen, keine gute Impulskontrolle haben, schon ein oder zweimal „fast“ gebissen haben.

Die Hunde, die man wahrscheinlich problemlos mehr „machen lassen“ könnte, wenn da nicht das Misstrauen aus Gründen wäre. Die Hunde, die EIGENTLICH ganz normale Hunde sind, aber diesen EINEN Auslöser nicht aushalten können.

Also lässt man sie lieber nicht in den Freilauf, setzt bei dieser einen Übung lieber aus, umgeht, vermeidet, verhindert. Oder lässt man laufen und hofft, dass sich das Verhalten von alleine reguliert? Wird es nicht. Und falls doch, dann ist das gegenüber den unfreiwilligen Lernhilfen ziemlich ungerecht.

 

Warum mich das nervt?

 

  1. Ihr riskiert sehenden Auges einen Beißvorfall. Letztendlich ist es nur eine Frage des Glück oder der Zeit, ob oder bis was passiert. 
  2. Ihr geht unfair mit eurem Hund um. Fast immer wird zu früh an der Leine geruckt oder der Hund hektisch weggezerrt, bevor euer Hund was falsch gemacht hat. Aber man kann ja schlecht warten, bis er was falsch macht….er hat ja keinen Maulkorb auf.
  3. Ihr verstärkt destruktive Muster und nehmt euch und vor allem eurem Hund viele Lerngelegenheiten. Ihr isoliert euch und euren Hund, lasst ihn in Situationen zu Hause, die er abgesichert mitgehen könnte und reduziert den Erfahrungshorizont zunehmend mehr.
  4. Letztendlich „spielt“ ihr Hundetraining, geht in Kurse, investiert womöglich in Einzeltraining und tanzt mit eurem Hund um den heißen Brei, weil die wirklich kritischen Situationen ohne Maulkorb nicht angegangen werden können.
  5. Ihr nehmt billigend in Kauf, dass ihr mal nicht aufmerksam seid, zu langsam oder eine Situation falsch einschätzt und euer Hund beißt. Den Joker, dass euer Hund das „noch nie gemacht hat“ oder ihr damit überhaupt nicht gerechnet habt, habt ihr schon lange verspielt.
  6. Ihr geht verantwortungslos mit der körperlichen Unversehrtheit von Menschen um, die sich mit euren Hund auseinandersetzen sollen oder müssen: Tierärzt:innen, Hundefriseur:innen, Physiotherapeut:innen, Dogwalker:innen, Hundetrainer:innen.
  7. Ihr quält euch selbst mit dem ganzen Stress, der Anspannung und der Unzufriedenheit. Dem dauernden Aufpassen und dem Schreck und Frust, der euch nach jeder blöden „gerade nochmal gut gegangenen Situation“ in den Knochen steckt.
  8. Ihr geht immer wieder sehenden Auges Risiken ein, die vor allem andere Menschen oder Hunde ausbaden müssen und zuletzt möglicherweise auch euer Hund. 
  9. Ihr lasst euren Hund sehenden Auges auf die mögliche Situation zusteuern, in welcher er dann ohne Maulkorbgewöhnung und dann wahrscheinlich ohnehin stressigen Ausnahmesituation einen Maulkorb angezogen bekommen muss. Sei es im Notfall in der Tierarztpraxis oder kurz bevor ihr ungeplant in einem öffentlichen Verkehrsmittel oder einer Gondel nur mit bemaulkorbtem Hund mitgenommen werdet.

Ist euer Hund an einen gut sitzenden Maulkorb gewöhnt, ist ein Maulkorb die beste Erfindung der Welt.

Ihr könnt kontrollierten und moderierten Sozialkontakt zulassen, ihr könnt üben, dass euer Hund es aushält, wenn fremde Menschen ein bisschen zu dicht neben euch stehen oder gehen, ihr könnt souverän bleiben denn „es kann (kaum etwas) nichts passieren“. Ihr könnt euch endlich wirklich auf Training konzentrieren und nicht nur darauf, schneller als euer Hund sein zu müssen.

Ihr könnt euren Hund an Pflegemaßnahmen gewöhnen, die im Alter essentiell werden. Ihr übernehmt das absolute Minimum an Verantwortung.

 

Was die Nachbarn sagen, wird erst dann interessant, wenn euer Hund gebissen hat, weil ihr keinen Maulkorb drauf hattet OBWOHL euer Hund bereits lange vorher gedroht, gezwickt, geknappst oder geschnappt, andere Hunde gehetzt, gepackt und gemobbt hat und ihr euch trotzdem gegen einen Maulkorb entschieden habt.

 

Aus Bequemlichkeit, Ego, Ignoranz, Verdrängung? Gibt es andere Gründe? Lohnt sich das? 

 

Ich verstehe, dass es nervt, an einen Maulkorb ranzukommen. Dass es frustriert, wenn man sich in einem Futterhaus was aufschwätzen lässt, was die Hundetrainerin als Müll und unbrauchbar definiert. Ich fühle den Pain, wenn man versucht die Nase eines ungehaltenen Hundes auszumessen und die bestellten Maulkörbe dann trotzdem nicht passen. Den Frust, wenn man eh schon das teuerste Modell bestellt hat und das jetzt nochmal woanders aufwändig anpassen lassen soll.

Ob das nicht wohl Alles übertrieben ist? 

 

Und plötzlich kippen die Argumente von „mein armer Hund soll doch sein süßes Mäulchen nicht dauernd mit so einem fiesen Maulkorb verschandeln zu „mir doch egal, so ein billiger Kunstoffmaulkorb oder eine Maulschlinge tun’s auch. Das mit dem Gähnen, Hecheln und der Temperaturregulation kann so schlimm nicht sein. Würde ja sonst bestimmt nicht so verkauft werden. Soll ich jetzt ernsthaft und womöglich über 100 € für eine Lösung ausgeben und dann auch noch durch das halbe Bundesland fahren nur, damit mein Hund einen passenden Maulkorb hat und

  • niemanden verletzt,
  • ein erfülltes Leben führen, lernen und öfter dabei sein kann,
  • ich endlich ernsthaft an den Themen trainieren kann, die meinen Hund und mich wirklich herausfordern?“

 

Ja, verdammt nochmal. Du wirst es nicht bereuen.

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