Is klar: Was auf Socialmedia trended, landet früher oder später auch in der Hunde-Bubble. Aber wusstest du, dass gerade in der Forschung zu Hyperaktivität, Stress und ADHS wechselseitig auf Studien zurückgegriffen wird?
Dennoch ist die sichere Diagnose von ADHS beim Hund schwierig bis unmöglich und bei Hunden nicht anerkannt.
Weil sich die Symptome jedoch stark ähneln und es mittlerweile einige Untersuchungen dazu gibt, finde ich das übermäßige Aktivität, Konzentrationsschwierigkeiten und impulsives Verhalten mehr Beachtung bekommen sollten.
Besonders im Umgang mit extrem unruhigen, gestressten, bewegungsfreudigen Hunden fällt mir häufig auf, dass nach dem Motto "Viel hilft viel" agiert wird. Dass Hunde damit unter Umständen erst so richtig in Stress und hyperaktives Verhalten getrieben werden, ist vielen Hundehaltenden nicht klar. Genetik und die Welpenzeit sowie Haltungsbedingungen und sogar die ersten Tage und Wochen nach dem Einzug in einer neuen Familie sind weitere Einflussfaktoren.
Nicht alle liegen in unserer Hand. Manche aber durchaus.
Auffällige Bereiche
- Der Hund hat Mühe, sich längere Zeit mit etwas zu befassen, was nicht unmittelbar belohnend oder stark motivierend ist. Hingegen kann sich der Hund wunderbar in dopamaninlastige Verhaltensweisen reinsteigern.
- Der Hund reagiert beispielsweise sofort auf ein Rückrufkommando, scheint das aber auf halber Strecke im Voll-Speed zu vergessen.
- Der Hund scheint auf Korrekturen oder Strafen wenig bis kaum "zu lernen", wirkt teilweise sogar fast angestachelt davon. Diskutiert ausdauernd und viel und immer wieder.
- Der Hund wirkt zwar oft grob, zu doll, zu laut und zu viel, ist aber bei genauerer Beobachtung recht sensibel und fein in der Kommunikation. Häufig nehmen diese Hunde zu Menschen differenzierte Beziehungen auf (den mag, ich den nicht).
- Der Hund wirkt hin und hergerissen zwischen verschiedenen Verhaltensweisen.
- Kann ohne räumliche Begrenzung nur schwer auf seinem Platz bleiben und dort entspannen.
- Kann schlecht abwarten und Impulse trotz Training nur schwer kontrollieren.
- Schnell frustriert, führt anstrengendere Aufgaben oft nicht zu Ende (ausgiebige Dummysuche ja, weil motivierend, anstrengendes Herankommen an den Dummy (Lösung finden) eher nein.
- Beknabbert sich selbst, manchmal so, als hätte er imaginäre Flöhe.
- Der Hund wirkt manchmal unberechenbar und impulsiv und bringt sich dadurch gerne mal in Lebensgefahr oder wirkt größenwahnsinnig.
- Der Hund jault, fiept, bellt und schimpft generell auch mal lautstark.
- Ist beim Aufnehmen von Leckerlies manchmal scheinbar "blind".
- Angespannte Körpersprache: Der Hund erscheint wir dauernd unter Strom, wenn er nicht schläft.
- Zeigt Imponiergehabe scheinbar ohne Muster oder "Sinn und Verstand" und ist dabei wechselhaft risikobereit: Zettelt Situationen an, die ihn selbst überfordern und reagiert dann erschrocken mit "Zoomies".
- Ist eigentlich nicht auf Konflikte aus und freundlich, initiiert durch sein Verhalten aber immer wieder solche.
- Der Hund neigt generell zu Übersprungshandlungen oder stereotypen Verhaltensweisen.
- Hypersexualität.
- Distanzlosigkeit.
- Ruheübungen? Albtraum für Hund und Mensch.
- Knabbert, beißt, schnappt. Braucht häufig einen Maulkorb, um in Erregungszuständen managable zu bleiben.
- Zerkratzt Beine und Arme, springt Bezugspersonen aber auch Fremde massiv an. Jede Reaktion darauf, sowohl positiv als auch negativ als auch Ignoranz scheint die Situation zu verschlimmern.
- Entwickelt sehr schnell starke Erwartungshaltung an stark motivierende Beschäftigungen (2 x Joggen gewesen, kriegt sich kaum ein, wenn die Laufschuhe rausgeholt werden)
- Schreien und Fiepen im Auto bei Ankunft oder Wiedererkennen bestimmter Strecken, Fahrtziele.
- Ziehen an der Leine, nicht ansprechbar, wenig Lerneffekt trotz viel Training
- Der Hund kann nicht gut alleine bleiben und benötigt teilweise sogar direkten Körperkontakt, um zur Ruhe zu kommen.
- ....
Die Liste ist noch viel viel länger und besteht aus Beispielen, die ich selbst häufig bei Hunde beobachtet habe, die hyperaktives Verhalten gezeigt haben oder im Verdacht standen ADHS zu haben. Wie du sehen kannst, finden hier bestimmt viele Hundehaltende ihren Hund wieder. Nochmal: Eine sichere Diagnose gibt es nicht und es wäre ganz ganz schlimm, wenn die Augen vor falscher Haltung, Beschäftigungsfehler und Erziehungsversäumnisse mit dem Etikett "ADHS" ignoriert und vor allem nicht geändert werden.
Denn: Neben anderen Maßnahmen bedeutet eine mögliche ADHS-Diagnose in aller erster Linie das eine massive Veränderung in eurem Alltag.
Doch keine Angst: Es ist nicht wie du denkst. Du musst mitnichten ein straffes Trainingsprogramm mit deinem Hund absolvieren. Vielmehr führt der Weg über viele kleine Anpassungen und Veränderungen. Die Balance aus der richtigen (ganz wichtig: Der RICHTIGEN) Auslastung, der Veränderung im Umgang und der Haltung und möglicherweise auch mit Unterstützung von Botenstoffen und Nahrungsergänzung.
Ganz wichtig: Immer erst Alles andere medizinisch abklären und ausschließen lassen. Auch, wenn es super selten vorkommt, kann bei solchen Symptomen sogar mal eine Schilddrüsenüberfunktion in Betracht gezogen werden, wobei die Unterfunktion bei Hunden weitaus häufiger vorkommt. Auch diese kann übrigens zu ähnlichen oder einigen dieser Symptome führen, weil eben auch und besonders die Schilddrüse die Gehirnchemie beeinflusst.
Es wäre fatal, ein ausgefeiltes Trainingsprogramm zu starten und dabei unwissentlich im wahrsten Sinne des Wortes auf Treibsand zu bauen.
Hyperaktive Rammler
Besonders bei intakten Rüden kommt häufiges Aufreiten, Rammeln und Besteigen gerne mit generell starker Unruhe, scheinbar nur schwer zu stillendem Bewegungstrieb oder Hektik. Hündinnen möchte ich hier nicht vergessen: Auch sie zeigen dieses Verhalten oder masturbieren sogar und gehören dann auch häufig in die Kategorie unruhiger, hektischer, leicht gestresster aktiver Hund.
Es ist nachvollziehbar, dass man bei solchen oversexten Kandidaten und Kandidatinnen schnell an Kastration denkt. Besonders bei Rüden gilt Kastration in manchen tierärztliche Kreisen und erst recht unter Hundewiesenfachleuten als Allheilmittel. Short Cut: Ist es nicht.
Der Irrglaube, dass die meisten Rüden durch eine Kastration allgemein ruhiger werden und mit dem Gerammel aufhören hält sich hartnäckig.
Ist hypersexuelles Verhalten jedoch stressbedingt und steht es im Zusammenhang mit vielen weiteren Symptomen, ist es meist nur ein mehr oder minder zufällig entstandenes, wenn auch naheliegendes, Verhalten zum Stressabbau, welches sich jedoch auch zu einer Stereotyoie auswachsen kann. Ähnlich wie Schwanzjagen, Kreiseln etc.
Solche hoffnungsvoll und voreilig kastrierte Rüden zeigen leider häufig das bisherige hyperaktive Verhalten gesteigert und auch nicht selten häufiger Gereiztheit und Aggressivität.
Mittlerweile gibt es glücklicherweise die Möglichkeit des Hormonchips. So lässt sich das Ergebnis zumindestens revidieren, wenn auch die gemachten Lernerfahrungen nicht mehr gelöscht werden können. Aber: Der HOrmonchip ist ein fieser Witzbold, da er genau bei den Rüden, die lieber nicht kastriert werden sollten in den ersten Wochen tendenziell sogar eher für eine Verbesserung des Verhaltens sorgt. Manchmal wird dann nach 6 Wochen bereits euphorisch die tatsächliche Kastration geplant.
Deshalb ist es wirklich wichtig, sich klarzumachen, dass der Effekt einer möglichen Kastration frühestens nach zwei, eher drei Monaten beurteilt werden kann und sollte.
Extremer Leidensdruck für Hund und Mensch
Hunde, die extremes und nur schwer zu regulierendes Verhalten zeigen, belasten ihre Umwelt und sich selbst. Wer schon mal mehrere Tage mit einem dauerfiependen, bellenden, hektischen Flummi verbracht hat, wird mir recht geben.
Hilfe naht: Man kann was machen. Es ist aber immer individuell, dauert ein wenig und erfordert viel Geduld und Selbstbeherrschung. Du brauchst also von ALlem, was dein Hund gerade vermutlich nichts hat, mindestens doppelt so viel.
Bereiche, die man beeinflussen kann
- körperliche Bewegung: Regelmäßigkeit vor Auspowern. Detaillierte und individuelle Anpassungen sind hier ganz wichtig. Hol die dabei unbedingt Hilfe von Fachpersonen, die sich mit diesem Thema gut auskennen.
- Studien weisen darauf hin, dass wir falsch Gassi gehen: Oft zu schnell, zu viel, an den Bedürfnissen von Hunden vorbei. Auch hier: Individuelle Anpassungen können richtig krasse Veränderungen machen.
- Spiel, Kontakt, Umgang: Es gibt viele tolle therapeutische Maßnahmen, die mit Hunden wirklich leicht umzusetzen sind und die unmittelbar Auswirkungen auf das Gehirn deines Hundes haben.
- Gehirnchemie beeinflussen: Futterzusätze und eine angepasste Ernährung alleine bringen meiner Erfahrung nach wenig bis nichts Spürbares. Aber: Sie können alle anderen Maßnahmen beschleunigen und vereinfachen und verbessern die Ansprechbarkeit auf Training und Veränderungen.
- Gezielte, angepasste Übungen zur Impulskontrolle, Selbstregulation, Frustrationstoleranz.
- Erziehungsfehler korrigieren, beziehungsbasiertes Erlernen von Regeln des sozialen Miteinanders
- Augen auf beim Rassekauf: Manche spezialisierte Hunderassen sind genetisch dazu veranlagt hyperaktives Verhalten oder Konzentrationsprobleme zu entwickeln.
was man nicht immer beeinflussen kann aber wissen sollte
Die Anfälligkeit für hyperaktives Verhalten und das frühzeitige, häufige und scheinbar nur schwer zu beeinflussende Zeigen von unerwünschtem Verhalten wird auch beeinflusst durch:
- hektische, aggressive oder extrem gestresste oder überforderte Muttertiere,
- das abrupte "Entwöhnen" von der Mutter, dem Säugen, Wurfgeschwister etc.
- die Abwesenheit von Wurfgeschwistern (Einzel-Welpen)
- Tot der Mutter > Flaschenaufzucht
- falsches Verhalten der neuen Familie bei Einzug des Welpen (Überreizung, Zwangsbespaßung, Überregulation, Reizarmut, Reizüberflutung)
Sogar separiertes Schlafen des Welpen in einem anderen Raum oder Stockwerk hat so massiven Einfluss auf die Gehirnchemie, dass es auch den späteren Umgang mit Aufmerksamkeit, Konzentration und Frustration beeinflusst.
Selbst, wie viel, wie lange und wie Körperkontakt zwischen Hund und Mensch stattfindet -besonders in den ersten 6 Lebensmonaten- ist relevant.
Auch hier: Eine gut vorbereitete Hundeanschaffung und Beratung durch eine -am besten auf Welpen spezialisierte Hundeschule- kann dir und deinem Hund viel Leid ersparen.
Wenn du die Gelegenheit hast, das Verhalten und die Erfahrungen deines Hundes bereits sehr früh zu beeinflussen, dann rate ich dir, diese Gelegenheit unbedingt zu nutzen. Diese Aufgabe hat nicht nur Vorteile und ist eine große Verantwortung.
Für alle Hunde gilt: Nach dem Ende der Pubertät ist verallgemeinerndes Lernen so nicht mehr möglich. Einige wenige positive Erfahrungen reichen dann nicht mehr aus, um sich "ein Bild" von etwas zu machen oder gar Verhalten zu verändern.
Im Erwachsenenalter muss eine Verhaltensstrategie durch Versuch und Irrtum und viele, viele Einzel-Erfahrungen schrittweise verändert und generalisiert werden um alltagstauglich zu werden. Das ist mühsam, aber möglich.
Härte wird schief gehen
Ich kann nur davor warnen zu glauben, dass diese Hunde "nur mal ordentlich in den Senkel gestellt werden müssen" und Personen, die zu solchen Maßnahmen raten, haben sich keine Sekunde mit der Gehirnchemie dieser Verhaltensweisen und -probleme befasst. Hätten sie das, wüssten sie, dass Einschüchterungsversuche und das Steigern von Bestrafungen die Situation nur verschlimmern.
Bestenfalls reagieren diese Hunde kurz irritiert oder erschrocken und fallen dann oft innerhalb von Sekunden wieder in unruhiges Zappeln, Beißen, Hüpfen, Rennen etc. zurück. Einige Hunde versuchen tatsächlich dennoch, ihr Verhalten anzupassen und beginnen dann beispielsweise unruhig und geduckt oder übermotiviert im Kreis zu laufen (durch ein Zimmer, um einen Menschen, der die Leine hält o.Ä.) statt beispielsweise hochzuspringen und in Kleidungsstücke zu beißen. Selbst für Laien ist aber erkennbar, dass der Hund nicht anders kann.
Ist die Hyperaktivität auch an ein gesteigertes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit gekoppelt und der Hund ist bereits an einem Punkt, an welchem er positive und negative Aufmerksamkeit gleich bewertet, wirkt auch beides verstärkend.
Besonders bei Gebrauchshunderassen (Hütehunde, Schäferhunde, Jagdhunde, ..) habe ich häufig beobachtet, dass sie dazu neigen, besonders körperliche Strafen scheinbar fast zu suchen oder diese Teil des Hochschraubens in immer höhere Erregungszustände sind.
Das Reißen des Halters an der Leine wirkt dann vergleichbar mit dem Ohrfeigen eines Boxers durch seinem Coach vor dem Kampf und die Wahrscheinlichkeit für aggressives Verhalten steigt. Spätestens dann befinden sich Hund und Mensch in einem Teufelskreis.
Ebenso wird auch das viel gelobte "Ignorieren des unerwünschten Verhaltens" alleine keinen Effekt zeigen. Leider sind solche wohlmeinenden Ratschläge dann eher ein Training der Ausdauer des unerwünschten Verhaltens. Deshalb brauchen wir solche Hunde ein individuelle Mischung aus Management und Verhaltensveränderung.
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