Können Hunde Tiefen einschätzen?

Wer seinen sorglos auf einer Brücke oder über einem Abhang spazierenden Hund beobachtet hat, hat sich diese Frage sicher schon mal gestellt: "Kapiert der eigentlich, dass er sich den Hals bricht, wenn er da runter fliegt?".

Hunde -so vermutet die Wissenschaft- müssen wie viele andere Tiere in den ersten Tagen nach ihrer Geburt die Dreidimensionalität neurologisch erlernen. Übersetzt bedeutet das so viel wie: In klitzekleiner Babywelpe würde vermutlich garnicht wahrnehmen, dass er auf einen Abgrund zusteuert und schwupps, abstürzen. Nach einigen Tagen und Wochen des Rumkrabbelns und Rumkullerns im dreidimensionalen Raum, also der Welt, entwickeln die meisten Tiere offensichtlich eine gewisse "Furcht" vor Tiefen.

Anders ausgedrückt, sie laufen nicht einfach weiter geradeaus in den Abgrund, sondern scheinen wahrzunehmen, dass der Untergrund sich ab der Kante gravierend verändert oder nicht mehr vorhanden ist.

Nichtsdestotrotz hampeln manche Hunde ja durchaus sehr fröhlich und sehr, sehr nah an tödlich tiefen Abgründen und scheinen sich überhaupt keinen Kopf zu machen, dass das saugefährlich ist.

Ein Erklärungsansatz dafür ist, dass Hunde quasi keine Gehirnkapazitäten darauf verwenden, unüberwindbare Tiefen weiter zu ergründen. Für Hunde ist es einfach nicht wichtig, viel über Schwerkraft, Thermik und Tiefenunterschiede  zu wissen, da sie ja keine Vögel sind. In einer natürlichen Umgebung würden die meisten Hunde also über Erfahrungslernen und zunehmender Geschicklichkeit den einfachsten und absturzsichersten Weg zu einem Ziel wählen.

Aber auch Hunde machen Fehler oder...wie auf der Overtoun-Brücke geschehen, nehmen einen Abgrund nicht wahr oder reagieren impulshaft auf einen Jagdreiz und übersehen dabei, dass sie sich in Gefahr begeben.

Das wäre dann wohl die natürliche Auslese der besonders impulsiven, unvorsichtigen oder weniger lernfähigen Individuen.

Zusammengefasst: So ganz genau und im Detail kann man bisher nicht erklären, inwieweit Hunde Tiefen einschätzen können. Studien dazu können eigentlich nur dann ethisch vertretbar umgesetzt werden, wenn keine Hunde zu Schaden kommen und das ist in diesem Fall "schwierig".

Ein "Kompromiss-Studiendesign" wurde mit Hilfe einer Glasplatte umgesetzt und dabei diverse Tierchen verschiedensten Alters und auch Menschenbabys "drüber gelockt". Man wollte herausfinden, ob und ab wann Lebewesen eine Klippe oder einen Abgrund erkennen und vermeiden.

So ganz eindeutig waren die Ergebnisse jedoch nicht, da die etwas mutigeren Testlinge ja ausprobieren konnten, wie stabil die Glasplatte ist oder eventuell Spiegelungen wahrgenommen haben etc. Außerdem ist natürlich unklar, inwieweit das Verhältnis zur lockenden Person eine Rolle spielte, nach dem Motto "Ok, wenn Muddi sagt ich soll da rüber, dann mach ich das" und viele weitere kritische Punkte.

 

Interessant sind jedoch Versuche mit Babykätzchen, die ihre ersten Lebenstage in absoluter Dunkelheit gehalten wurden: Diese Tiere stiefelten ohne Zögern einfach über die Glasplatte in den vermeintlichen Abgrund. Nach einigen Tagen in Helligkeit veränderte sich jedoch das Verhalten der Kittens und sie wagten sich nicht mehr, in den Abgrund zu laufen. Daraus schloss man, dass Tiere innerhalb kürzester Zeit ein Gehirn-Update erhalten und visuell einschätzen lernen, wo es tief runter geht.

Hier findest du die komplette Studie zur "Visual Cliff".

Lernerfahrungen & Halt

Natürlich können Hunde ebenfalls Angst, also die diffuse Sorge vor etwas, empfinden. Sie denken aber ziemlich sicher nicht bewusst darüber nach, ob sie eine Lebensversicherung hätten abschließen sollen, während sie mit dir an steilen Hängen unterwegs sind.

Dennoch haben bisherige Lernerfahrungen natürlich Einfluss auf das Verhalten deines Hundes. 

Was meiner Erfahrung nach eine tragende Rolle spielt, ist weniger die Tiefe an einem Abgrund, sondern vielmehr, wie der Untergrund beschaffen ist, auf dem sich dein Hund jetzt gerade aufhält: Rutscht er? Ist eine Hangneigung so steil, dass dein Hund den Halt verliert oder kaum "Grip" findet? Rutscht dein Hund auf losem Untergrund oder ist der Untergrund instabil, wackelig oder hohl? Diese Faktoren führen viel eher dazu, dass Hunde unsicher werden und sich sofort vorsichtiger verhalten oder so viel Körperoberfläche wie möglich auf den Untergrund bringen.

Dies kann man manchmal auch bei Hunden beobachten, wenn sie beispielsweise in einem Einkaufszentrum durch eine Glasscheibe in ein tieferes Stockwerk blicken oder in einem Treppenhaus auf glatten Stufen hinunter gehen und -je nach Größe des Hundes- nur schwer bremsen können und instabil werden.

 

Hunde die schon einmal von einem Baumstamm abgerutscht sind oder eine Treppen runtergefallen sind, können vorsichtiger werden oder Ängst entwickeln. das muss aber nicht unbedingt sein und hängt stark von der individuellen Tendenz zu Ängstlichkeit, Vorsicht und Gesamtkonstitution ab. Und eben auch von vielen anderen Erfahrungen.

Was Abgründe für Hunde wirklich gefährlich macht

#1 Training mit Gefahrenpotenzial

Im Training bringen wir unseren Hunden oftmals schon im Welpenalter bei, uns zu vertrauen und auch Hindernisse zu bewältigen, bei denen objektiv betrachtet Vorsicht geboten sein müsste:

  • Wackelbretter
  • Hindernisse, deren "andere" Seite der Hund nicht sehen kann
  • Alltagssituationen in der modernen Welt: 
    • Glasböden
    • sehr glatte, spiegelnde Böden
    • Übergänge aus Gitter, Glasboden, gläserne Fahrstühle, 
    • moderne Architektur mit offenen Stockwerken und Glastrennwänden als Geländer

Das ergibt natürlich Sinn, wenn es darum geht, unseren Hund auf unsere komplexe Welt vorzubereiten und ihm dabei zu helfen, sich darin möglichst angstfrei zu bewegen. Dennoch empfehle ich dir, dabei immer abzuwägen, in welchem Fall es wirklich schlau ist, deinem Hund sein natürliches Misstrauen oder Vorsicht "abzutrainieren" und wann du es besser lassen solltest.

Eine weitere Variante kann auch sein, dass du zusätzlich intensiv trainierst, dass dein Hund bestimmte Hindernisse nicht ohne ausdrückliches Kommando überspringen oder verlassen darf.

 

Beispiel: Ich habe Rosi bereits sehr früh an diverse Hindernisse gewöhnt und sie auch anspruchsvolle Klettereien über Leitern oder wackelige, schmale Brücken machen lassen. Dabei habe ich auf folgende Dinge geachtet:

  1. Langsamkeit statt Übereifer: Rosi sollte lernen, ihre Pfoten bewusst abzusetzen und sich auszubalancieren, statt einfach nur so schnell wie möglich irgendwo drüber zu brettern.
  2. Stets ansprechbar bleiben: Ich habe Rosi sehr dafür verstärkt, dass sie zu jedem Zeitpunkt ansprechbar war und ich sie auch auf einem anspruchsvollen Hindernis stoppen oder dirigieren kann.
  3. Mein Schwerpunnkt im Training bestand vor allem darin, dass sie meinem Handzeichen folgt und  zunächst auf ein Hindernis kommt. Den Abstieg habe ich bewusst ganz unterschiedlich gestaltet so, dass Rosi keine spezielle Erwartungshaltung hat. ich wollte nicht, dass sie nur darauf wartet runter hüpfen zu können oder Ähnliches. Also habe ich Rosi mal langsam klettern lassen, mal heruntergehoben oder mal den gleichen Weg zurückklettern lassen, den sie aufgestiegen ist usw. Abspringen ist nur erlaubt, wenn ich es ganz ausdrücklich signalisiere.
  4. Ich lasse Rosi auch im Alltag nie einfach über Hindernisse drüber springen, die sie nicht kennt oder deren Rückseite sie nicht einsehen kann. Mauern sind so ein Beispiel. Ganz generell habe ich Rosi daran gewöhnt, dass sich das Raufspringen auf etwas nur lohnt, wenn es zuvor ein Kommando dafür gab.
  5. Ich habe viel Zeit darauf verwendet, dass ich Rosi zu jedem Zeitpunkt am Geschirr anheben, tragen oder einen steilen Hang mitziehen/unterstützen oder sie auf meinen Schultern tragen kann ohne, dass sie zappelt oder unsicher wird. Das stärkt nebenbei -wenn man sich entsprechend Zeit für das Training nimmt- das gegenseitige Vertrauen enorm.

Ob diese Vorgehensweise für dich und deinen Hund passt, musst du selbst entscheiden. Es hängt stark von eurem Alltag, euren Aktivitäten und auch dem Wesen deines Hundes ab. Ein Draufgänger braucht in anderen Bereichen Anleitung und Training als der eher vorsichtige Hund.

Da ich ein großer Wander- und Bergfan bin und mir das ohne Hund garnicht vorstellen kann, war es mir sehr wichtig, Rosi auch ohne Leine durch schwieriges Gelände und auch im Gebirge sicher dirigieren zu können.

#2 Selbstbeherrschung & Restrisiken

Einer der Hauptursachen für Hundeabstürze sind vermutlich Jagdunfälle. Besonders bei jagdlich ambitionierten Hunden kann ein Jagdreiz leicht dazu führen, dass dein Hund jegliche Vorsicht außer Acht lässt und Gefahren schlicht nicht mehr wahrnimmt. Ein Stoppsignal, ein super Rückruf und Raumkontrolle sind schon mal viel wert.

Übermut oder ein hohes Erregungslevel können leichter zu Unfällen führen.

Selbst trittsichere und zuverlässige Hunde können sich verschätzen oder einfach einen schlechten Tag haben. Deshalb leine ich Rosi lieber einmal mehr an. Besonders, wenn ich die Umgebung selbst nicht kenne. 

Hilfreiche Kommandos

"Hopp" & Handzeichen: Spring dahin oder kletter hier rauf. NICHT drüberspringen ;-)

"Runter" & Handzeichen: Kletter hier herunter (Den Weg, den ich zeige oder dort wohin ich zeige)

"Steh": Kontrolliertes Stehenbleiben und auf Anweisung oder Freigabe warten

"Ich helf dir": Dieses Signal hat sich zwischen Rosi und mir als Ankündigung dafür etabliert, dass ich sie am Geschirr festhalte und unterstütze oder hochhebe oder trage. So weiß sie, was als Nächstes passiert und kann besser darauf einstellen.

"Langsam": Das jeweilige Tempo verringern.

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