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Immer mehr verhaltensauffällige Hunde

In diesem Artikel soll es nicht um Verhaltensauffälligkeiten an sich gehen, sondern um die Frage, wo sie herkommen. Denn kürzlich wurde von einem Kollegen die Nachzucht eines weiteren Kollegen angeboten. Zwei putzige Welpen, solide Gene, alles ganz supidupi. Man verstand garnicht, warum die keiner haben wollte. Wo sie doch quasi die besten Elterntiere der Welt haben und sicher absolut stabile, tolle Hunde werden.

Gleichzeitig wurde die Frage gestellt, wie es sein kann, dass Menschen massenweise Auslandshunde importieren. Hunde mit weit schlechterer oder wenigstens ungewisser Genetik und der großen Wahrscheinlichkeit, Probleme zu machen oder wenigstens "unpraktische Hunde" zu sein. Wieso Menschen ein perverses Faible für Hunde haben, über die man jedem der's nicht hören will eine Gruselgeschichte aus der Hundehölle erzählen kann (am liebsten mit fehlenden Gliedmaßen, Verätzungen oder wenigstens Narben), ist ein ganz anderes Thema.

Aber er hatte ja recht: Warum wird man mitten in Deutschland diese zwei recht soliden Welpen nicht los? Warum entscheiden sich Menschen eher (und trotz vieler Beratungsangebote) relativ uninformiert vorzugsweise für genetische Wundertüten? 

Liegt das am löblichen (keine Ironie!) Tierschutzgedanke? Mögen viele Menschen Überraschungen? Glauben die meisten nicht an den Einfluss der Gene und sind dem Gedanken verfallen, ein weißes Blatt zu kaufen, dass sie dann nach Belieben beschreiben und formen können?

Warum gibt es keinen Run auf Welpen die, zugegebenermaßen, keine exotische Optik, aber dafür eine um so solidere innere, genetische Grundausstattung haben? Stattdessen gab es viel Kritik für das Züchten in einen übersättigten Markt. Auch das meiner Meinung nach irgendwie zu Recht. Ich habe auch gemeckert ;-) 

Schauen wir uns das Ganze mal genauer an. Denn der Hauptpunkt, um den es ging: 

"Ihr bekommt hier Hunde, die im Gegensatz zu den vielen Auslandsimporten und Tierschutzhunden NICHT verhaltensauffällig sind und sehr wahrscheinlich nicht werden. Warum wollt ihr die nicht und entscheidet euch stattdessen immer wieder für Hunde, die verhaltensauffällig sind oder wahrscheinlich werden?", der ist ja spannend. 

Naja: Wenn man davon überzeugt ist die genetisch sichere Bank zu Hause sitzen zu haben...warum damit nicht züchten? Besonders, wenn man die Hunde nicht nur zum Spaß, sondern zum Arbeiten an der Herde einsetzt und um die Relevanz von Genetik weiß und überhaupt keine Lust auf Wahrscheinlichkeiten hat.

Trotzdem hat mich die Argumentation rund um die Werbung für die überschüssigen Welpen des Wurfs und die daraus entbrannte Diskussion beschäftigt. Eines der Argumente war unter anderem, dass der Großteil der Auslandshunde hier eine Vielzahl an Problemen verursacht und die Zahl verhaltensauffälliger Hunde steigt. Und zwar proportional zum Anstieg eben dieser Hundeimporte aus dem Ausland in den letzten Jahren. Ja, geh' ich mit. Die Begründung hat mir weniger gepasst.

Denn es wurde so dargestellt, als sei der Auslandshund (den es per se so ja auch garnicht gibt) genetisch irgendwie minderwertig und daraus resultierten Probleme. So einfach also? Nach dem Motto: Geh zum Züchter und du hast die genetisch sichere Bank? Verhaltensauffälligkeiten sind damit ausgeschlossen? Überlässt man die Fortpflanzung dem Zufall oder kennt man gar nicht einmal die genaue Herkunft des Hundes, braucht man sich über einen verhaltensauffälligen Hund nicht zu wundern? Joaein!

steile These

Das halte ich für undifferenziert und sogar gefährlich. Vor allem, weil es (mal wieder) die Hundehaltenden viel zu sehr entlastet. (Was wiederum nicht gefährlich ist, aber feige und unaufrichtig).

"Der Hund hat gebissen (bleibt nicht alleine, ist nervös, unsicher, krank), mehrfach, achso...Tierschutzhund...naja, sicher schlechte Genetik....ist ja klar."

Als wäre das, was der Mensch in unseren Breitengraden in den letzten Jahrzehnten züchterisch, genetisch bei Hunden fabriziert hat ganz wunderbar und damit bei einem Hund mit deutscher Herkunft mit Zuchtbuch, Verhaltensprobleme praktisch fast unmöglich. Ääääh...NEIN???!!

Als würden Hunde, die sich "unkontrolliert" verpaaren genetisch "falsch" sein? 

Wenn das so einfach wäre, gäbe es meinen Beruf, in der Form wie ich ihn ausübe, nicht.

Vermehrer und Größenwahn

Defintiv schlackern auch mir die Ohren, wenn mir Nicolchen erklärt, dass sie ihren Terriermix von einer Freundin, die auch ganz doll im Tierschutz auf Kreta engagiert ist, bekommen hat, der Terriermix um den es geht, nein, der kommt nicht aus Kreta, der ist von der Tante von der Freundin, die hat den Hund wiederum von ihrem Onkel, der in der Nähe von Düsseldorf,.... Dass da höchstwahrscheinlich irgendein A... dachte, dass es ein nettes Nebeneinkommen ist, Welpen zu verkaufen und ebendiese irgendwo im 8. Stock in ihrer eigenen Scheiße nebst einer halbtoten Mutter zu halten und sie dann als 8 Wochen alte Uppsala-Welpen mit in Wahrheit fünfeinhalb Wochen, traumatsiert, teilweise depriviert und natürlich ungeimpft zu verscherbeln.....so what?? Hauptsache Nicolchen hat das Gefühl, eine wahre Heldentat mit der "Hunderettung" vollbracht zu haben. Dass sie in Wahrheit Tierquälerei und Tiervermehrung supportet, spielt dabei keine Rolle. Hauptsache das Etikett "Adoption" hängt jetzt an dem Hund. "Kauf" klingt ja irgendwie auch so hässlich.

 

Dass da wahrscheinlich kein physisch und psychisch gesunder Hund draus wird...geschenkt. Wundert mich garnicht, dass Nicolchen jetzt Hilfe benötigt, weil ihr Hund nicht nur nicht hört, sondern "irgendwie gestört" ist. Erstmal ist das offiziell ein Welpe mit (gefälschten) Papieren und (kann ja jeder erstmal behaupten) astreiner Genetik. Ein "echter" Tierschutzhund wird er erst später. Dann, wenn Nicole keinen Bock mehr hat und tränenreich im Tierheim erklärt, wie sie unwissend über's Ohr gehauen wurde und jetzt einfach fix und fertig ist, wegen dem Hund und so.

 

Und wenn Michael und Chayenne es für eine tolle Idee halten, dass bevor sie selber sich vermehren, sie erstmal ihren Pitbull mit der Dobermannhündin "Babys" machen lassen, ist da nicht nur viel menschlicher Abgrund und Verantwortungslosigkeit, sondern auch Genetik im Spiel, die einfach eine große Wundertüte ist. Diese Hunde kommen nicht aus einem ausländischen Shelter, sondern werden in Deutschland massenweise produziert und als "Hobbyzuchten" verkauft. Und wer jetzt sagt, dass man da selber schuld sei, man würde seine Hunde ja seit jeher von einem registrierten Züchter und Zuchtverbandsmitglied kaufen, der darf gerne weiter träumen. Von gesunden Hunden und Zucht "im Sinne gesunder Tiere".

Sowohl bei der sozialromatisch verklärten Vermehrung von verschiedenen Rassen und deren Mixen als auch beim unüberlegten Kauf von Hunden von irgendwelchen Züchtern: Genetik hat immer Einfluss und wurde lange unterschätzt und kleingeredet. Einfach nur zwei tolle Elterntiere sind keine "saubere Genetik", wie es immer so flapsig und gleichzeitig überzeugt dahingesagt wird. Denn leider ist es doch ein bisschen komplizierter als das, was wir in der neunten Klasse Bio mit den roten und weißen Blümchen gelernt haben. Es kommt nicht nur rosa raus! 

 

Denn: Vermehren ist nicht klonen! Nur weil man als Interessent:in irgendwas als Elternteil vorgeführt bekommen hat, was einem gefällt (optisch und verhaltensmäßig), heißt das noch lange nicht dass 1. dieser kurze Eindruck einen Rückschluss auf das gesamte Verhaltensrepertoire darstellt, dass 2. überhaupt die echte Mutterhündin ist, 3. dass sich die "tollen Gene der Mutter" (die ja meist der einzige Vorfahr des Wurfes ist, den man kennenlernt, wenn überhaupt), durchsetzen. Ein Welpe besteht aus der gesamten genetischen Sammlung aller Vorfahren mütterlicherseits und väterlicherseits PLUS epigenetischen Faktoren.

In einfacher Sprache: Nur weil die Mama cool UND schön ist, heißt das noch lange nicht, dass der Welpe nicht nach dem hässlichen und gestörten (und/oder kranken) Großvater kommt, über den niemand mehr spricht.

Man ist also NIE ganz sicher.

 

Nur (und diese Information ist mindestens genauso wichtig wie die Tatsache, dass Gene einen immensen Einfluss haben): Ganz viele andere Faktoren spielen eine genauso große Rolle bei der mentalen und physiologischen Entwicklung deines Hundes. Das heißt: Selbst wenn der Welpe genetisch nach der schönen und mental stabilen Mama kommt, kann er trotzdem Verhaltensstörungen entwickeln und ein ganz schön "unpraktischer" Hund werden (wie es der Kollege von ganz am Anfang formuliert hat). Gene sind keine Garantie, keine Versicherung und die Bewertung und Entwicklung von Verhalten kann subjektiv unterschiedlich wahrgenommen werden.

 

Es ist trotzdem garnicht verwunderlich, wenn Welpen aus zweifelhaften Quellen oftmals auffällig werden. Nicht nur, weil ohne Sinn und Verstand Frankenstein gespielt wird, sondern auch, weil Epigenetik, pränatale Einflüsse, Aufzucht etc. eine große Rolle spielen und nicht revidierbare Auswirkungen auf das gesamte Hundeleben, das Verhalten und die Gesundheit haben. Da kann Nicolchen sich noch so viel Mühe geben, mit dem teuren Barf, dem orthopädischen Liegebettchen, den vorbildlichen Ruheübungen, den Hundebüchern, dem Insta-Account, der vielen Selbstreflexion und dem teuren Hundetrainer, äh HundeFLÜSTERER! 

 

Merke: Hundehaltung bedeutet, dass es scheiße werden kann, obwohl du Alles richtig gemacht hast. Weil Hundehaltung genau wegen der Variablen, die sich größtenteils unserer Kontrolle entziehen, eben auch so spannend ist. Und vielleicht deshalb auch nicht für jeden geeignet (just saying).

 

Die Wahrscheinlichkeit, dass du eine Niete ziehst steigt, je mehr unbekannte Variablen du hast. So gesehen stimmt das Argument, wenigstens bei der Auswahl der Eltern- und Großelterngenerationen nichts dem Zufall zu überlassen und damit genetisch auf der sichereren Seite zu sein. Alles andere nennt sich dann wohl "Pech".

 

Bedenke aber auch: 

Wenn der genetische Top-Welpe zu früh von der Mama weggenommen wird, eine traumatisierende Aufzuchtsituation durchläuft, Trennung, Umzug, Eingewöhnung erlebt und die Möglichkeit durch zufällig ungünstige Lernerfahrungen destruktive Verhaltensweisen auszuprobieren oder sogar zu festigen, können Fehler in den ersten Lebenswochen eines Welpen auch die tollste Genetik überlagern. 

Fairerweise muss aber auch gesagt werden: Resilienz ist auch genetisch bedingt. 

In einfacher Sprache: Ein Welpe mit genetisch bedingt stabilem Wesen und guter Widerstandskraft wird negative Erfahrungen, Stress etc. wahrscheinlich besser wegstecken, als ein instabiler Welpe.

Eins beeinflusst das Andere und umgekehrt

Veranlagungen und Bedürfnisse, die nicht zueinander passen, sich widersprechen oder leider so krass befeuern, dass der Hund selbst bei besten Bedingungen verhaltensauffällig wird, sind eine Qual. Nicht nur oft für die Haltenden, sondern auch und besonders für den betroffenen Hund.

Aber weit gefehlt, wenn man die eben nur bei gewissenlosen Vermehrern vermutet. Ich empfehle den Besuch irgendeines Wettbewerbs, bei dem es etwas zu gewinnen gibt (und sei es nur ein Schleifchen). Man muss nicht lange suchen und auch kein geschultes Auge haben, um sich ziemlich schnell die Frage zu stellen, ob das "wohl so normal" ist? Sind die auffälligen Hunde alles Hunde ohne Stammbaum und Zuchtbuch? Nö.

Hunde ohne Ausknopf, ohne Bremse, ohne Nerven, Beutejunkys, Verrückte, Schwanzjagende, Schattenjagende, chronisch Gestresste, chronisch körperlich Kranke, Gereizte, Phlegmatiker, Depressive, Autoaggressive, Gedeckelte, Resignierte, Teilnahmslose. Störungen gehen in alle Richtungen. Zuhause meistens einfach arme Viecher, manchmal brandgefährlich oder wenigstens massive Nervensägen. Unpraktische Hunde! Da hat mein Kollege recht. Aber genauso oft mit spitzenmäßigem Stammbaum, wie ohne, dafür aber mit drei Chips und bewegter Vergangenheit. Hui.

 

Wir halten fest: Gene sind ein extrem großer Faktor, wenn es um das Entwickeln von Verhaltensauffälligkeiten geht. Dazu gehören nicht nur Stereotypien oder Aggressivität, sondern auch Ruhelosigkeit, Wahrnehmungsstörungen und andere "Kleinigkeiten", die vor allem für die Hunde eine Qual sind und von ihren Halter:innen oftmals nicht mal bemerkt werden, wenn sie die Menschen nicht massiv nerven, einschränken oder gefährden.

Was soll das denn für einer sein? "DER TIERSCHUTZHUND"

Dass man sich beim Kauf eines Hundes "aus dem Internet" nicht mal darauf verlassen kann, dass es sich um eine Wundertüte handelt, sondern möglicherweise um eine Briefbombe, eine Serienkillerin oder einen hysterischer Sextroll mit Hydrantenstuhl dürfte mittlerweile auch beim letzten Naivling angekommen sein.

Und das zeigt auch, dass es "den Tierschutzhund" nicht gibt. Egal, ob du die Pflegestelle so oft besucht hast, dass ihr garnicht mehr ohneeinander könnt, bevor sie dir dann erklären, dass sie den Hund jetzt doch behalten wollen, du seit einem Jahr Gassigängerin im örtlichen Tierheim bist oder auf Ebay-Kleinanzeigen ignoriert hast, dass die nette junge Frau mit dem etwas zu unpersönlichen Verhältnis zu ihrem Junghund (den ihr Freund ihr geschenkt hat, der sie jetzt verlassen hat und sie jetzt den Hund "nur in gute Hunde, aber trotzdem für 500 €" nach 10 Tagen doch wieder abgeben muss) dich vielleicht einfach verarscht: Jeder Hund und jede Voraussetzung ist individuell. Es gibt nicht den typischen Hund aus dem Tierschutz. Deshalb gibt es auch nicht "die schlechte Genetik" bei Tierschutzhunden und die "gute Genetik" bei gezielt vermehrten (äh, gezüchteten) Hunden. Was ich eigentlich sagen will: Traue niemandem! 🙊 (Paranoia unlocked)

 

Aber natürlich gibt es Wahrscheinlichkeiten. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Hund mit absolut wesensfesten Elterntieren genetisch bedingte Verhaltensauffälligkeiten entwickelt, ist geringer. Man muss sich schon richtig Mühe geben, einen resilienten und kerngesunden Junghund in den Wahnsinn zu treiben. Bei einem mangelernährten, traumatisierten Mischling aus der Türkei braucht es manchmal nur noch die tagelange Reise im Transporter und eine übereuphorisierte, fünfköpfige Familie, die es ihm jetzt "erstmal so richtig schön macht" um einen soliden Grundstein für psychische Störungen oder destruktive Copingstrategien zu legen.

 

Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Hund, dessen genetische Herkunft unbekannt ist, genetisch bedingte Auffälligkeiten entwickelt ist an sich nicht höher. Aber du weißt halt nicht, welche Karte du gezogen hast. Du kennst nicht mal das Kartendeck, dass dir vorgehalten wird. Vielleicht besteht es nur aus Nieten ohne, dass das jemand weiß. Oder alle wissen von den gezinkten Karten, nur du nicht. 

 

Ist das Leben dieser Hunde weniger wert? Nein. Reicht das als Rechtfertigung dafür, dass du jetzt beruhigt den Laptop zuklappst und das Spiel des Lebens mit Hundewelpen aus dem rumänischen Shelter oder der spanischen Podenco-Auffangstation spielst und darauf hoffst, dass du schon Glück haben wirst? Dass der Hund schon zurecht kommen wird, in deinem Leben? Dass immer noch gilt: was nicht passt, wird passend gemacht? Nein. 

 

Denn das, was Hunde meiner ganz privatpersönlichen Meinung noch viel häufiger verhaltensauffällig macht, sind Haltungsfehler. Wer glaubt, dass die beiden, ganz am Anfang beworbenen Welpen mit der genetisch tollen Veranlagung ein Garant für das sind, was sich viele Menschen mittlerweile unter Hundehaltung und "netten Hunden" vorstellen, täuscht sich und blättert bestenfalls irgendwann ganz erleuchtet in einem der vielen Bücher zum Thema Ausdrucksverhalten des Hundes. Vielleicht gibt er oder sie den Hund aber auch entnervt und wegen Überforderung ab. 

Der Rosa Elefant

Ok, wir sind uns also einig: Es ist durchaus möglich, dass Hunde trotz optimaler Aufzucht und Haltung verhaltensauffällig sein können. Genetisch bedingt. Was weniger gerne laut gesagt wird, weil wir (Hundetrainer:innen) es uns ganz ungerne mit unseren Kund:innen (Hundehaltenden) verscherzen ist, dass Haltungsfehler ein mindestens genauso großer Grund für Verhaltensauffälligkeiten sind. Auch bei ganz toller Genetik und seriös engagierter Aufzucht.

Klar, man streitet unter Hundetrainer:innen schon gerne öffentlich darüber, dass wahlweise die eine oder andere Trainings- oder Erziehungsmethode die Falsche ist und deshalb ein Hund jetzt aggressiv, bissig, überängstlich oder chronisch gestresst ist. Aber das liegt ja nicht an unseren Kund:innen und den haltungsfehlern des oder der Einzelnen, sondern an Kolleg:innen, die ALLE NIX KÖNNEN. Deshalb kann man Trainingsfehler getrost öffentlich immer wieder ansprechen, Haltungsfehler aber nicht. Da müsste man ja ganz konkret sagen: "So wie dein Hund bei dir lebt, wie du diesen Hund hältst, ist es fachlich betrachtet logisch, dass dieser Hund auffälliges Verhalten zeigt." Autsch.

 

Ist das nicht die Frage, die jeden von uns beschäftigt? 

 

"Habe ich meinen Hund versaut?"

 

Bin ich schuld daran, dass mein Hund verhaltensauffällig oder sogar -gestört ist? Wäre mein Hund woanders ein anderer? Sind es NICHT die Gene, sondern das Leben mit mir?? ICH? 

Welche Hundetrainerin und welcher Hundetrainer möchte da schon gerne schlicht "Ja" sagen und dafür auch noch Geld nehmen? Ich nicht! Und so einfach ist es eben auch nicht. Es gibt selten den einen Grund, die eine Ursache. Auch das gehört zur Wahrheit. 

Selbst, wenn Haltungsfehler der Grund sind, ist es seltenst der einzige Grund. Trotzdem sind es halt auch nicht immer nur "die Anderen" oder die Genetik und einfach Pech, wenn der eigene Hund auffälliges Verhalten zeigt. Schieben wir es auf die Gene, wäre das entlastend: Da kann man nix machen. Und wo man nix machen kann, muss man auch nicht. Püüüh.

Deswegen finde ich es schon wichtig in der Beratung offen und ehrlich über den Punkt der Haltungsbedingungen zu sprechen. Es wäre gegenüber dem betreffenden Hund -der ja offensichtlich einen Leidensdruck hat, sonst wäre er nicht auffällig-nicht fair, sich ausschließlich auf Training, Erziehung und Erklärungen (oder Ausreden) hinsichtlich schwieriger Genetik und pränataler Prägung zu stützen.

 

Wenn einem verhaltensauffälligen Hund wirklich geholfen werden soll, geht dies neben diversen anderen Maßnahmen fast immer mit einer deutlichen Veränderung der Haltungsbedingungen einher. Das kann eine kleine Veränderung im Tagesablauf bedeuten oder auch die Abgabe des Hundes in ein geeigneteres Umfeld. Die Bandbreite ist also gigantisch, von Kleinigkeiten bis hin zum worst case Szenario. Damit kommt auch viel Verantwortung für die Person, die dich berät. 

 

Wie gesagt: Wir sprechen hier von verhaltensauffälligen Hunden. Es geht hier nicht darum, dass du bisher einfach ein bisschen zu faul und inkonsequent warst, um deinem Hund das Laufen an lockerer Leine beizubringen. 

Was du für dich mitnehmen kannst

Merke:

Verhaltensauffälligkeiten können verschiedene Ursachen und Ausprägungen haben. Dabei kann die Einschränkung für dich gering, der Leidensdruck für deinen Hund jedoch groß und umgekehrt sein.

Die Veranlagung zu Verhaltensauffälligkeiten kann genetisch angelegt sein. Aber nicht jeder genetisch disponierte Hund entwickelt welche. Denn auch viele andere Faktoren spielen eine Rolle (z.B. Haltung, Umfeld, Umgang, Erfahrungen).

Auch genetisch nicht disponierte Hunde können Verhaltensauffälligkeiten entwickeln.

Was du beeinflussen kannst

Vor dem Hundekauf:

Die Anschaffung eines Hundes sollte sich niemals nach dem richten, was du willst, sondern nach dem, was du kannst.

Kannst (und möchtest) du es dir zeitlich, nervlich und finanziell leisten, einen möglicherweise physisch oder psychisch kranken Hund zu halten und Alles daran zu setzen, dass es entweder erst garnicht so weit kommt, oder die Auswirkungen so gering wie möglich sind? Bist du ausreichend kompetent, um einen verhaltensauffälligen Hund durch den Alltag zu bugsieren? Kannst du die Wundertüte aushalten? Auch im worst case? Oder bietet deine persönliche Situation einem potenziell "anfälligeren" Hund ein Umfeld, welches das Auftreten von Auffälligkeiten recht unwahrscheinlich macht? Dann: Go for it. 

 

Ansonsten würde ich an deiner Stelle alle Regler, die du beeinflussen kannst, auf "better safe than sorry" stellen:

Informiere dich über die Herkunft deines Hundes, der Elterntiere, der Aufzuchtbedingungen, der Rassebesonderheiten, der genetisch häufigen Probleme, dem, was typische Probleme mit den jeweiligen Hundetypen sind. Da du diese Informationen vielleicht nur bedingt richtig interpretieren kannst, solltest du dich beraten lassen. Und zwar nicht nur von der Züchterin oder dem Züchter, dem Rasseverband oder dem Tierschutzverein, bei dem du dich für einen Hund interessierst, sondern von jemandem, der einen eher neutralen Blick auf deine Situation und die des jeweiligen Hundes werfen kann. Lass dir überzeugt vorgebrachte Behauptungen zu Großartigkeit des jeweiligen Hundes oder der jeweiligen Rasse schriftlich geben. Sei nervig, frage nach, bleibe kritisch. Geht es wirklich darum, eine optimale Passung zwischen Hund und Mensch und zukünftigem, gemeinsamen Alltag zu finden, wirst du damit eher Punkte sammeln, als das Nachsehen haben.

 

Je mehr Anforderungen du an einen Hund stellst, umso wichtiger ist es, dass du Alles dafür tust, dass es so wahrscheinlich wie nur irgendwie möglich wird, dass dein Hund

  1. keine genetische Veranlagung für Verhaltensauffälligkeiten mitbringt und du dich
  2. für einen Hundetyp entscheidest, der am wahrscheinlichsten mit den Haltungsbedingungen zurecht kommt, die du ihm aktuell bieten kannst.

Es ist keine gute Idee, sich für einen Hund zu entscheiden, der Haltungsbedingungen erfordert, die man aktuell noch nicht bieten kann, die man aber hofft bieten zu müssen, wenn der Hund erstmal da ist. Also keinen sportlichen Laufhund kaufen, weil man aktuell bewegungsfaul ist, sich aber erhofft, dass sich das mit einem Hund ändert. Keine französische Bulldogge kaufen, wenn man eigentlich keine Kohle hat, um die vielen OP's zu bezahlen, die zwangsläufig auf diesen Hund zukommen. (Auch generell keine französischen Bulldoggen kaufen. Aber das ist ein anderes Thema.)

Wenn du bereits einen verhaltensauffälligen Hund hast:

Genetik kannst du nicht ändern und Rasse, Vorlieben und Bedürfnisse auch nicht. Dafür kannst du aber

  1. den Umgang, sowohl erzieherisch als auch im Training, gerne fachlich angeleitet, verändern,
  2. die Haltungsbedingungen so weit wie möglich optimal gestalten und dich diesem Punkt ehrlich stellen (ein fachlich fundierter, wertschätzender Blick von außen hilft),
  3. deine Einstellung gegenüber dem Thema Hundehaltung, deine Erwartung an deinen individuellen Hund kritisch beleuchten. 

Die Ergebnisse dieser drei Punkte sind absolut individuell. Die gute Nachricht ist: Du kannst richtig viel tun. Immer. 

Die schlechte Nachricht: Manchmal steht die notwendige Veränderung, Belastung und Invest für Hund und Mensch wirklich in keinem gesunden Verhältnis mehr und würde sich auch nicht groß verbessern, wenn man Punkt 1-3 verändert. Dann kann die Abgabe eines Hundes wirklich eine Chance sein. Das ist glücklicherweise wirklich selten der Fall. 

Trotzdem gehört auch das zu einer ehrlichen Beratung, denn nicht immer ist ein Hund per se verhaltensauffällig. Das, was wir als auffälliges Verhalten interpretieren, kann sich in einem anderen Umfeld legen oder dieses kann dort überhaupt erst therapiert werden.

Es gibt Haltungsbedingungen und Lebenssituationen, die eine erfolgreiche Verhaltenstherapie oder -veränderung verunmöglichen.

Wo kommen verhaltensauffällige Hunde her?

Es wäre furchtbar unkompliziert, wenn es darauf eine konkrete Antwort gäbe. Trotzdem wage ich mal eine These, was eher ungünstige Voraussetzungen sind, die ein wachsames Auge und optimierte Haltungsbedingungen erfordern:

  • Vermehrer und Zucht, deren Schwerpunkt nicht auf dem Ausschluss von genetisch bedingten Verhaltensauffälligkeiten liegt und/oder die diese sogar billigend in Kauf nehmen. Diese Hunde werden oftmals bereits mit der großen Wahrscheinlichkeit geboren, in irgendeiner Form verhaltensauffällig werden zu können.
  • Autonome oder beziehungslose Hunde, die erst im sehr späten Erwachsenenalter das erste mal in ein Umfeld "verpflanzt" werden, dass Abhänigkeit, Beschränkung, Kooperation und enges Zusammenleben mit Menschen erfordert (das sozialromantisch verklärte Einfangen von alteingesessenen Streunern endet nicht selten in einem Desaster für den betreffenden Hund).
  • Hunde, die sehr häufig Bezugspersonen wechseln.
  • Hunde, die (besonders im Welpen- und Junghundealter) destruktive Copingstrategien erlernen (mussten).
  • Hunde, die in einem für Hunde generell ungeeigneten Umfeld leben müssen oder mussten oder für die jeweilige Rasse/den jeweiligen Hundetyp ungünstigem Umfeld gehalten werden.

Daran sieht man bereits:

 

Es ist kompliziert. Denn selbst mit optimalen Voraussetzungen wird ein Hund wegen Pech abgegeben, schlecht vermittelt, macht ein oder zwei doofe Erfahrungen, ist ein bisschen zu lange gestresst, die neuen Halter:innen haben das nicht gleich erkannt und schwups: Auffälliges Verhalten. Der kluge, sehr gewissenhafte Border Collie entwickelt bei der netten Familie in der City bereits im Alter von 8 Monaten Verhaltensauffälligkeiten, jagt erst den Traumfänger, der so lustig über'm Bett baumelt, als der hochgehängt wird, den Schatten des Traumfängers und als der entfernt wird, einfach seinen eigenen Schatten. Seitdem müssen zu Hause immer alle Jalousien runter gemacht werden, wenn draußen die Sonne scheint. Die Wurfgeschwister haben sich bis auf einen weiteren Bruder, der Zweige sammelt und alle paar Meter vor seinen Menschen ablegt, lauert, Zweige aufnimmt, ablegt usw. alle zu prächtigen, gelassenen Begleitern entwickelt, eine organische Ursache oder Stoffwechselstörungen können nicht gefunden werden. Einige Wochen später findet die Mama der Familie bei der neunjährigen Tochter zufällig eine ganze Sammlung lustiger Katzenspielzeuge und Wollfäden. Unter Tränen hat das Mädchen zugegeben, dass sie damit immer heimlich gespielt hat. Früher, als Luni noch klein war. Als sie dann so komisch wurde, hat das keinen Spaß mehr gemacht und sie hat damit schon lange aufgehört. Ärgerliches Pech.

 

Gut gemeinte Rettung eines verletzten Hundes, Not-OP, Vermittlung nicht in ein neues, sondern in das erste Zuhause überhaupt und schon ist der ehemals gelassene Straßenhund gereizt, gegenüber Artgenossen übersteigert aggressiv und zu Hause zerstörungswütig, wenn man nur kurz den Raum verlässt. Dabei war er die gesamte Zeit über in der Auffangstation absolut unauffällig, freundlich und wurde als Anfängerhund vermittelt.

 

Man sieht aber auch:

Ein Hund mit ganz ungünstigen Voraussetzungen landet bei einem für ihn optimalen und kompetenten Platz, auf welchem er gefördert und angeleitet wird und entwickelt sich zu einem tollen, zuverlässigen, psychisch gesunden Begleiter. 

 

Der Einfluss von Genetik und Epigenetik kann nicht oft genug betont werden. Das darf aber keinesfalls dazu führen, Hunde immer weniger hundegerecht und rassegerecht zu halten und aus Haltungsfehlern resultierende Verhaltensauffälligkeiten mit ebendieser Genetik-Argumentation zu ignorieren, kleinzureden und als Ausrede für Tatenlosigkeit zu benutzen. 

 

Wenn du mehr über Verhaltensauffälligkeiten und Verhaltensstörungen von Hunden erfahren möchtest, kannst du hier weiterlesen.

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